Kultur – Raum – Schrift

Schrift ist nach wie vor eine der größten kulturellen Errungenschaften der Geschichte. Dabei transportiert sie nicht den Menschen, wie etwa das Rad. Aber sie macht Gedanken mobil. Sie transportiert sie über große Entfernungen ohne großen Aufwand; sie erhält Gedanken über lange Zeiträume. Damit erschließt die Schrift Zeit und Raum in einer Weise, die vor ihrer Erfindung nicht denkbar war und die Welt in gewisser Weise kleiner, zugänglicher, erfahrbarer machte. Der Assyriologe Joachim Marzahn ist ein Kenner. Seit vielen Jahren ist er Kustos der Keilschriftensammlung des Vorderasiatischen Museums. Die Bewahrung der Altertümer steht hier natürlich im Vordergrund. Marzahn ist aber kein in sich gekehrter Wissenschaftler. Im Gegenteil: Schon seit vielen Jahren macht er seine Wissenschaft durch populärwissenschaftliche Publikationen bekannt. Für die Ausstellung “Jenseits des Horizonts” ist Joachim Marzahn nun in ganz besonderer Weise tätig geworden. Hier der Bericht des ersten “Gastbloggers” auf Jenseits des Horizonts – Hinter den Kulissen. Vielen Dank, Herr Marzahn.

Um den Bereich „Keilschrift“ der Ausstellung „Jenseits des Horizonts“ etwas zu beleben entstand die Idee, den originalen Schriftdokumenten, die wie vor tausenden von Jahren in einem Regal platziert werden sollten, eine moderne Kopie hinzuzufügen. So bekämen Besucher einerseits die Gelegenheit, eine der antiken Aufbewahrungsmethoden zu betrachten. Andererseits wird hier durch Ausstellungsführer demonstriert, wie man die Tafel entnahm, wie sie wirklich aussah und wie man sie wieder verstaute. Die Originale, die man nur von der Schmalseite her im Regal aufgebaut sieht, würden geschont; die moderne Kopie hingegen könnte zu Vorführungszwecken benutzt werden. Ausgewählt wurde eine ca. 13 x 13 cm große Tafel, auf der vor ca. 4.600 Jahren ein fortgeschrittener Schüler eine lexikalisch-literarische Übung geschrieben hatte. Zunächst musste das Material besorgt werden: Keramikerton gab es im Künstlerbedarf. Einen Schriftgriffel bekam man leider nicht, der ließ sich aber leicht selbst herstellen. Man musste nur die Schnittform beachten, um sicherzustellen, dass die Griffeleindrücke in den Ton die Form der Keile bekamen, aus denen die antiken Schriftzeichen bestehen.Was einfach aussieht, war für den Kopisten die erste Prüfung: das Formen der Tafel. Das Vorbild hat – wie seine Zeitgenossen – eine sehr charakteristische Form mit leicht gewölbter Vorderseite, stark gewölbter Rückseite sowie scharf abgeschrägt gestalteten Kanten. Drücken und Quetschen war das eine, aber die Kanten ließen sich letztlich nur durch Schneiden mit dem Messer herstellen. Es ist anzunehmen, dass auch in der Antike Messer zu Hilfe genommen wurden. Klar war auch: für das Schreiben in reiner Handhaltung (linke Hand Tafel – rechte Hand Griffel) war der Rohling zu groß und zu schwer.

Damals wie heute musste also eine angepasste Unterlage her, die auch auf die Wölbungen Rücksicht zu nehmen hatte, damit sich beim Schreiben der Tonkörper nicht verzieht. Das Glasperlenbett, welches nun die Unterlage bot, dürfte wohl kaum dem antiken Schüler zur Verfügung gestanden haben, aber Zugeständnisse an die Gegenwart müssen erlaubt sein. Möglicherweise war die Tafel damals in eine Form gebettet oder lag auf textiler bzw. lederner Polsterung. Beide Methoden, modern oder antik, boten nun die Möglichkeit, die Tafel und den Griffel frei zueinander zu drehen, damit die Zeichenelemente („Keile“) gut zueinander gesetzt werden konnten. Da der Text nun wie heute von links nach rechts zu schreiben war – allerdings in Kolumnen nebeneinander – mussten mindestens diese vorgezeichnet werden, damit Abstand und Proportionen eine Leitform hatten. Zugegeben: Auch das hierfür verwendete Plastiklineal hat kein antikes Vorbild. Und nun? Nun waren „nur“ noch die einzelnen Zeilen mit den Zeichen von oben nach unten in die Kolumnen hineinzuschreiben. Allen Zeichen voran immer das ordnende Zeichen „1“ in gerundeter Form (= Außenseite eine schmalen Schreibrohrs), danach der Text, bestehend aus Sammelbegriffen, getrennt durch Zeilenstriche. Die Praxis lehrte rasch, dass Übung nur bedingt den Meister macht. Zumindest ließ sich die Schreibgeschwindigkeit bis zum Schluss nicht wesentlich erhöhen – dafür fordert die Präzision, mit der die Winkelhaltung des Griffels jedem einzelnen Keil anzupassen war, zu viel Aufmerksamkeit. Es zeigte sich auch, dass eine ruhige Haltung zuweilen nur mit Hilfe der zweiten Hand erreicht werden konnte, was vor allem für das Setzen der winzigen Keilchen in manchen Zeichen galt. Feuchter Ton in größerem Block bleibt sehr lange weich. Zeitnot bestand somit keine. Allein die Vorderseite zu beschreiben dauerte aber etwa vier Stunden, wobei dem ungeübten Rücken des Kopisten mehrfach eine Pause gegönnt werden musste. Zum Glück zeigte sich, dass die „lederharte“ Tafel beim Drehen auf die Vorderseite und der damit verbundenen Lagerung auf die soeben geschriebenen Zeilen, keinerlei Beschädigung erfährt. Die Rückseite war dadurch gut zu beschriften und nahm weitaus weniger Zeit in Anspruch als der Vorgänger; es waren ja auch nur zwei Kolumnen. Fertig. Nun nur noch trocknen und das Objekt ist für die Ausstellung bereit. „Flache“ Vorderseite auf eine Gipstafel, damit die Feuchtigkeit besser herauszieht….. Doch dann passierte es nach zwei Tagen: die Tafel bekam einen Riss.

Gerissene, gesprungene, abgeplatzte Keilschrifttafeln: das ist die Realität im Museum, das war also nicht wirklich ein Problem. Fast besser noch so, denn auch das originale Vorbild hatte einen langen und mehrere kurz Risse – den langen noch dazu exakt in derselben Richtung wie ihn jetzt die Kopie zeigte. Das war ja mehr Kopie als erwartet. Aber ach: nach einem weiteren Tag zerbrach entlang des Risses die Tafel beim Anheben. Ein Blick auf die Bruchflächen lehrte dann auch, dass wohl der Ton für den Rohling zu inhomogen geblieben war. Man hätte den Ton vorher, wie Keramiker sagen, besser schlagen sollen. Zwar wäre eine aus geklebten Fragmenten gemachte Tafel immer noch besser als ein fragiles Original, doch die Klebeflächen waren zu porös. Sie wären in der Ausstellung durch die ständige Nutzung sicher gebrochen. Es musste also ein zweiter Versuch unternommen werden, der auch deutlich besser gelang: Tonklumpen schlagen, schneiden, formen, schlagen usw. usf. – der Ton wird dichter, homogener. Und nun dasselbe noch einmal von Vorn…..

Keilschrift lesen muss man lange lernen; Keilschrift schreiben auch!

(erlebt und aufgezeichnet von Joachim Marzahn)